- geschrieben am 06. 01.2023 - 

Vorwort

Mein Name ist Jörn Ruckhaber. Geboren wurde ich am 29.05.1972. Ich bin Dipl.-Ing. (FH) und verdiene mein Geld hauptberuflich als Planer und Statiker im Baugewerbe. Nebenberuflich leite ich zwei Kampfkunstschulen. Seit 1992 bin ich Mitglied in der Europäischen WingTsun-Organisation (EWTO). Von Anfang an trainiere ich WingTsun und Escrima parallel. Im WingTsun habe ich seit 2008 den 2. Höheren Grad (HG) und im Escrima seit 2015 den 1. Höheren Grad. Meine zwei Schulen befinden sich südlich von Leipzig. Ich biete in meinen Schulen WingTsun, KIDs-WingTsun und Escrima an. Den größten Teil des Unterrichts stemme ich selbst, so dass ich regelmäßig auf 15 Stunden Unterricht pro Woche komme. Für meine eigene Weiterentwicklung habe ich in den letzten Jahren regelmäßig an Lehrgängen, Kursen und Workshops der Großmeister (GM) Keith R. Kernspecht, GM Thomas Schrön und GM Thomas Dietrich teilgenommen. Ich habe mir den Luxus gegönnt, nur bei einigen der besten Lehrer der EWTO zu lernen, soweit ich das beurteilen kann. In letzter Zeit haben mich die Entwicklungen meines Si-Fus zu den Themen Inneres WingTsun, ChiSao-Kuen und MAGIC HANDS in den Bann gezogen und ich versuche, an so vielen Workshops zu diesen Themen teilzunehmen, wie es mir möglich ist. Am 10.12.2022 habe ich von meinem Si-Fu die Urkunde zum Instructor MAGIC HANDS of Kan-Ki-Fu erhalten.
Die vorliegende Arbeit ist meine theoretische Hausarbeit zur Erlangung des dritten Höheren Grades im WingTsun. Den praktischen Teil habe ich im September 2022 bereits bestanden. Als Thema zur theoretischen Arbeit wurde mir von meinem Si-Fu nach einem MAGIC HANDS - Lehrgang vorgeschlagen: „Schreibe doch, warum wir jetzt mit MAGIC HANDS beschäftigen“. Das Thema möchte ich gern bearbeiten.

Was haben wir vorher gemacht?

Um die Frage zu beantworten: „Warum machen wir jetzt MAGIC HANDS?“, möchte ich beschreiben, was „wir“ vorher gemacht haben. Das „wir“ beziehe ich nicht auf alle WingTsun-Kollegen. Ich kann nicht für alle sprechen. Ich beschreibe, was ich selbst beobachtet habe und welche Erfahrungen ich beim eigenen Lernen und Lehren gesammelt habe.
Auf den ersten Blick erscheint es einfach. Wir haben WingTsun gemacht. WingTsun ist ein Kampfstil aus dem Süden von China nach der Interpretation und Unterrichtsweise von Si-Gung Leung Ting. Nach Wikipedia bezeichnet „Stil“ eine charakteristisch ausgeprägte Erscheinungsform. Somit würde ich erwarten, dass man einen Kampfkünstler an Bewegungen und Bewegungsabläufen einem Stil zuordnen kann. Auf den gleichen Angriff sollten alle Kampfkünstler eines Stils mit einer ziemlich ähnlichen Bewegung / Abwehr (stilgetreu) antworten.
Die EWTO habe ich stets als die Nr. 1 in Sachen zivile Selbstverteidigung wahrgenommen und das Thema Selbstverteidigung war auch für mich der Grund, mit WingTsun anzufangen und Mitglied der EWTO zu werden. So habe ich mir auch auf die Fahnen geschrieben, meine Schüler so gut es geht auf eine Selbstverteidigungssituation vorzubereiten. Selbstverteidigung ist der Schwerpunkt meines Unterrichts. In den letzten 30 Jahren, als Mitglied der EWTO, habe ich diverse Änderungen an den Unterrichtsprogrammen miterlebt. Immer hatte ich das Gefühl, dass das neue Programm für die Selbstverteidigung optimiert wurde. Wenn man Schüler aus den verschiedenen Epochen gefragt hätte, was sie trainieren, würde jeder „WingTsun“ geantwortet haben, obwohl sich in den Epochen immer etwas verändert hat. Man kann meist sogar bei ehemaligen EWTO-lern erkennen, in welcher Epoche sie die EWTO verlassen haben, weil der damalige Programmstand in eigenen Bewegungsabläufen archiviert wurde.

Betreiben oder betrieben wir mit den Optimierungen für die Selbstverteidigung immer noch den gleichen Stil „WingTsun“? Selbst wenn die WT-ler in der gleichen Programmepoche gelernt hatten, sind teilweise Unterschiede in den Bewegungen und im Verständnis erkennbar. Jeder Lehrer hat seinen Schülern seinen Stempel aufgedrückt. Ich würde fast sagen, es gibt so viele WingTsun-Stile, wie es WingTsun-Lehrer gibt. Ich persönlich finde diese Vielfalt an Varianten nicht schlimm und würde mit keinem darüber streiten, welche Variante authentisch, gut, richtig oder das Original von GM XY ist.
Ich habe eine langjährige Schülerin, die für ihr Studium fast ein Jahr in Hongkong gelebt und studiert hat. In dieser Zeit hat sie auch in der hongkonger WingTsun-Schule von Si-Gung Leung Ting trainiert. Si-Gung Leung Ting war während dieser Zeit nie selbst anwesend. Aber meine Schülerin konnte mir glaubhaft und aus erster Hand über die aktuellen Programme in Hongkong berichten. Sie schrieb wöchentlich sehr amüsante Trainingsberichte für unsere Schule, auch über kleine Gemetzel mit fortgeschrittenen WT-lern. Ich hatte schon die Befürchtung, dass sie in der hongkonger WingTsun-Schule geteert, gefedert und vor die Tür geworfen wird. Aber wahrscheinlich machen die das aus Höflichkeit nicht.
Zusammenfassend möchte ich dazu sagen, wenn das in Hongkong WingTsun ist, machen wir in der EWTO sehr wahrscheinlich etwas anderes. Somit fällt es ziemlich schwer zu definieren, wie WingTsun als Stil zu sein hat und ich werde versuchen, das „Was haben wir vorher gemacht?“ anders zu beantworten.

Es gibt verschiedene Gründe, warum Menschen miteinander bzw. gegeneinander kämpfen. Diese Gründe unterscheiden sich teilweise erheblich. Ich bin überzeugt, dass kein Trainingsangebot auf dem Kampfsport- / Kampfkunstmarkt für alle Gründe gleichermaßen gut geeignet ist. Zur Verdeutlichung möchte ich ein paar Beispiele anführen. Man könnte ein Kampfsporttraining so aufbauen, dass die Teilnehmer optimal für einen Wettkampf vorbereitet sind oder sich mit Kampfsporttraining fit und gesund halten. Man könnte ein Training auch so aufbauen, dass die Teilnehmer optimal für den sogenannten „Ritualkampf“ oder für eine Überfallszenario vorbereitet sind. Wenn Spezialeinheiten ausgebildet werden, gegnerische Posten zu überwältigen, wird auch vom Kampftraining gesprochen. Auch für rituelles oder religiöses Kämpfen muss trainiert werden. Jedes Training dafür hat ein anderes Anforderungsprofil und benötigt spezielle Trainingsinhalte.
Bei dem Angebot in meinen Schulen konzentriere ich mich auf das Spezialgebiet der körperlichen Selbstverteidigung. Ich möchte lieber auf einem kleinen Gebiet sehr gute Qualität bieten, als bei vielen Gebieten nur an der Oberfläche zu kratzen. Als Selbstverteidigung werden die Vermeidung und die Abwehr von Angriffen auf die seelische oder körperliche Unversehrtheit eines Menschen bezeichnet.1 Zwischen seelischer und körperlicher Unversehrtheit besteht immer ein Zusammenhang, wobei ein reiner seelischer Angriff an dieser Stelle nicht Thema sein soll. Ein Selbstverteidigungstraining muss den Teilnehmer in die Lage versetzen, bei einem Angriff nicht getroffen und verletzt zu werden. Diese Aufgabenstellung ist sehr komplex. Leider lehrt die Erfahrung, dass komplexe Aufgaben einer komplexen Lösung bedürfen.

Um eine Aufgabe zu lösen, gilt es, diese klar zu definieren und in ihre verschiedenen Bestandteile zu zerlegen. Klar definiert ist, es geht um Angriffe und Verteidigung in einer Selbstverteidigungssituation. Aber auch Selbstverteidigungssituationen unterscheiden sich. Mit zwei unterschiedlichen Szenarien lassen sich die meisten Selbstverteidigungssituationen jedoch gut beschreiben und auch gut trainieren. Das eine Szenario läuft nach immer ähnlichen Regeln ab. Eine körperliche Auseinandersetzung kündigt sich durch die sogenannte Vorkampfphase an. Diese ist geprägt durch Gestik, Mimik, Worte und Körpersprache der Beteiligten. Durch die Vorkampfphase vergeht jedoch eine gewisse Zeit, bis es zur Eskalation und zu körperlichen Angriffen kommt. Wahrscheinlich ist das, statistisch gesehen, das häufigste Szenario.
Für dieses Szenario hat sich in den letzten Jahren der Begriff „Ritualkampf“ etabliert. Vor dem Erscheinen der Bücher „Blitzdefence“, „Der Letzte wird der Erste sein“ und „Verteidige Dich³“ (alle erschienen im Wu Shu-Verlag Kernspecht), war mir dieser Begriff nicht geläufig.
Das andere Szenario möchte ich als Überfallszenario bezeichnen. Hier passiert ein körperlicher Angriff ohne Vorzeichen und Ankündigungen. Obwohl dieses Szenario deutlich seltener eintritt, wird mir bei meinen durchgeführten Info- und Einführungsveranstaltungen von den Teilnehmern oft die Angst vor einem solchen Szenario als Grund genannt, um mit dem Selbstverteidigungstraining anzufangen.

Ritualkampf

Auch im Szenario mit Ritualkampf gibt es verschiedene Herangehensweisen, wie man nicht getroffen wird. Die sicherste ist wahrscheinlich, die Anzeichen für eine Eskalation richtig zu deuten und die Situation schnell zu verlassen.
Eine andere Möglichkeit ist es, durch geschicktes, ganzheitliches Handeln und Taktieren die Situation zu deeskalieren.
Manchmal kann oder will man die Situation nicht verlassen und eine Deeskalation ist leider auch nicht möglich. Die Situation endet dann, warum auch immer, mit körperlicher Gewalt. Man hat also mindestens zwei Personen mit unterschiedlichen kämpferischen Voraussetzungen. Ich sehe meinen Unterricht so, dass ich jedem, der zu mir in den Unterricht kommt, in die Lage zu versetzen möchte, Verantwortung für seine eigene Sicherheit zu übernehmen. Also möchte ich das beschriebene Szenario auf die Spitze treiben. Wie hat eine kleine, zierliche Person eine Chance, eine große, kräftige Person zu besiegen?
Ein definitiv bewährtes Mittel ist es, völlig überraschend, herzhaft vitale Punkte anzugreifen, den Sieg nur kurz zu genießen und den Platz schleunigst zu verlassen. Nach meiner Erfahrung funktioniert diese Methode für jeden, egal ab groß, klein, jung oder alt. Wird diese Methode von kräftigen und kampferprobten Personen angewendet, ist der Trainingsaufwand dafür gering. Ein Dilemma ergibt sich jedoch für den Anwender. Er hat zwar die körperliche Auseinandersetzung gewonnen, aber war es tatsächlich Selbstverteidigung und Notwehr? Er hat selbst zuerst angegriffen. Ob es Selbstverteidigung im Rahmen der Notwehr war, müsste bei Notwendigkeit an anderer Stelle entschieden werden. Ich habe und hatte durchaus Schüler, die sich mit dieser Methode anfreunden konnten. Wenn man zurückblickt, wurde und wird diese Methode erfolgreich von verschiedenen WingTsun-Kämpfern praktiziert. Vielleicht ist das überfallartige und konsequente Angreifen der Schlüssel zum Erfolg im WingTsun. Im Blitzdefence-Programm von meinem Si-Fu wurde das überraschende Angreifen noch um „taktische“ Komponenten ergänzt. Durch „schauspielerische“ Einlagen werden Zeugen generiert, die später bei Bedarf bestätigen könnten, dass man sich nur gewehrt und nicht zuerst angegriffen hat. Außerdem werden Ablenkungsmanöver und Einlulltechniken verwendet, um tatsächlich überraschend angreifen zu können.

Oft habe ich versucht, dieses Erfolgsmodell allen meinen Schüler zu unterrichten. Dabei ergaben sich jedoch verschiedene Probleme. Vielen widerstrebt es, den ersten Schlag auszuführen. Sie kommen mit dem Gedanken zum Training, sich selbst zu verteidigen. Das bedingt, dass der Andere Angreifen muss. Ohne Angriff keine Verteidigung. Diese Einstellung erlebe ich bei Frauen häufiger als bei Männern. Ich denke, diese Hemmung ist ein Teil unserer genetischen Programmierung.
Um siegreich zu sein, sollte es sich um einen überraschenden Angriff handeln. Es gilt also zu trainieren, sich überraschend zu bewegen. Weiterhin gilt es, vitale Punkte anzugreifen. Also bedeutet das, die vitalen Punkte müssen bekannt sein und man muss sich zielorientiert bewegen, um diese Punkte zu erreichen. Abschließend gilt es, auf das Ziel mit gewollter Stärke einwirken zu können. Somit hat man einen ganzen Katalog an Übungsaufgaben, damit das „Erfolgsmodell“ auch erfolgreich ist. Man kann natürlich jetzt die verschiedenen vorgefertigten Bewegungsabläufe unterrichten und trainieren. Und irgendwie funktionieren die auch meist mit Holpern und Poltern. Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass das Training von vorgefertigten Bewegungsabläufen nicht zwangsläufig dazu führt, dass Angriffe überraschend, herzhaft und zielorientiert sind. Die Angriffe sind oft zu kurz, zu lang, ohne Ziel, ohne Wirkung, ohne Timing und so weiter. Manchmal ist es ziemlich erschreckend, dass trotz einiger Trainingsstunden nicht viel Verwertbares übrig bleibt. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass fertige Bewegungsabläufe auch gegen störrische Gegner nur selten funktionieren. Das war bei hohem Trainingsaufwand ziemlich frustrierend.
Deutlich schwieriger wird das Geschehen beim Szenario Ritualkampf, wenn man selbst nicht überraschend angreift, sondern den Angriff abwartet. Wenn es dem Angreifer gelingt, einen überraschenden, gezielten und kräftigen Angriff zu starten und auch zu landen, ist man als Angegriffener ohne ausreichende Nehmerqualitäten verloren. Wenn ich den Angreifer schulen müsste, würde ich ihm folgende Tipps geben:

1. unauffällig in die eigene Schlagdistanz stellen

2. den eigenen Körper richtig positionieren und getarnt ausholen

3. das Opfer ablenken oder einschüchtern

4. überraschend und kräftig einen Vitalpunkt angreifen, ohne dabei störende Teile, wie Arme oder Beine, des Opfers zu berühren
Umgedreht würde ich den Angegriffenen schulen, wie sein Angreifer genau das nicht hinbekommt. Er soll sich im Ernstfall nicht mit dem schwierigsten Angriff auseinandersetzen müssen, sondern nur mit einem schlechten und einfach abwehrbaren. Doch wie gelingt das?
Eine andere Strategie wird im Buch „Der letzte wird der Erste sein“ beschrieben. Hier geht es darum, die unbewusst erzeugten Anzeichen des Angreifers, dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht, richtig zu deuten und dann selbst in den Angriff hinein anzugreifen. Ich bezeichne diese Taktik gern als Konterboxen. Auch bei dieser Variante gilt es, den Angreifer im richtigen Moment in kürzester Zeit kampfunfähig zu bekommen. Auch hier stellt sich die Frage: Wie gelingt das?
Nicht stereotype Fertigkeiten garantieren den Sieg, sondern kampftaugliche Fähigkeiten. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich von solchen kampftauglichen Fähigkeiten das erste Mal bei meinem eigenen Escrima-Unterricht gehört habe.
Ich fing an, im eigenen Unterricht mehr auf kampftaugliche Fähigkeiten zu achten und diese mit meinen Schülern zu trainieren. Obwohl diese Fähigkeiten aus dem Escrima–Unterricht stammten, funktionierten sie prima mit dem Erfolgsmodell des überraschenden Angreifens im WingTsun.
Später erschien das Buch von meinem Si-Fu „Die großen Sieben“. Darin geht es speziell um kampftaugliche Fähigkeiten für asiatische Selbstverteidigung. Zu den von ihm benannten Fähigkeiten gehören:
Achtsamkeit, Gewandtheit, Gleichgewicht, Einheit des Leibes, Wahrnehmungsfähigkeit, Timing und Kampfgeist. Mit diesem Wissen muss ein funktionierendes Selbstverteidigungstraining so aufgebaut sein, dass genau diese Fähigkeiten ständig verbessert werden. Die sieben großen Fähigkeiten gehören zur Basis einer funktionierenden Selbstverteidigung. Leider fällt mir nach vielen Jahren als Lernender und Lehrender keine Übung ein, wo alle diese Fähigkeiten gleichzeitig trainiert werden können. Ich kann jedoch bestätigen, dass bei Verbesserung dieser Fähigkeiten auch das überraschende Angreifen deutlich besser wird.
Für die beschriebenen Lösungsansätzen für das Szenario „Ritualkampf“ benötigt man die sieben großen Fähigkeiten. Wenn diese Fähigkeiten ausreichend entwickelt sind, lässt sich das Szenario „Ritualkampf“ mit jedem stilistischen Erscheinungsbild umsetzen, es muss also nicht so aussehen wie WingTsun, würde aber genauso gut funktionieren. Was ist dann aber das Besondere im WingTsun?

WingTsun
Im WingTsun wird damit geworben, dass taktile Reize genutzt werden, um Angriffe unschädlich zu machen. Die Trainingsmethode dazu heißt ChiSao. Um diese Methode nutzen zu können, müssen Verbindungen zwischen dem Angreifer und dem Angegriffenen hergestellt sein. Im einfachsten Fall berühren sich die Arme der Widersacher. Wenn diese Verbindungen hergestellt sind, müssen diese Verbindungen auch geschickt genutzt werden. Die Verbindungen müssen in einem Bereich passieren, wo sie durch den Verteidiger auch nutzbar sind. Ist das Ziel des Angriffs schon erreicht, existiert auch eine Verbindung, die wir aber nicht haben wollen.
Wenn man davon ausgeht, dass der Angreifer keine oder nur wenige taktile Fähigkeiten besitzt, wäre es von ihm ziemlich geschickt, die beschriebenen Verbindungen zu vermeiden, nach dem Motto: „Soll sich doch der darum kümmern, der sie benutzen will.“ Ob das Vermeiden von Verbindungen beim Angreifer nun bewusst oder unbewusst passiert, ist ziemlich egal. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das Herstellen und das geschickte Benutzen solcher Verbindungen einiger Übungsstunden bedarf und das gilt nicht nur für das Szenario eins.

Im zweiten Szenario, dem Überfallszenario, wird man überraschend mit körperlicher Gewalt konfrontiert. Wird der Angriff, ähnlich einem Attentat, erfolgreich zu einem vitalen Punkt ausgeführt, ist man als Angegriffener ohne Chance. Zum Glück landen die Angriffe nicht immer auf den entscheidenden Stellen oder sind mit ausreichender Intensität ausgeführt. Somit hat man als Angegriffener eine Chance, sich zu wehren. Im Regelfall ist man in einer solchen Situation erschrocken und begrenzt handlungsfähig. Es geht also darum, den Schreckmoment zu überstehen, möglichst nicht handlungsunfähig zu werden bzw. nach sehr kurzer Zeit wieder handlungsfähig zu sein. Bedingt durch die Situation befindet man sich nach einem Überfall in unmittelbarer Nähe zum Angreifer. Meistens ist man noch gepackt, umklammert oder der Angreifer wirkt in anderer Weise auf den Angegriffenen ein. Ein Training diesbezüglich muss auf den psychischen Stress vorbereiten und Lösungen beinhalten, wie das Einwirken des Angreifers beendet werden kann. Um in diesem Szenario zu bestehen, sind die großen sieben Fähigkeiten als Basis Voraussetzung. Für die zuvor beschriebenen Verbindungen für das taktile Kämpfen gibt es durch den Zugriff des Angreifers schon sehr gute Voraussetzungen. Leider sind sie ohne eigenes Zutun noch nicht wirklich nutzbar.
Wenn man vom proaktiven Angreifen absieht, befinden sich Angreifer und Angegriffener nach kurzer Zeit bei beiden Szenarien in einer nahen Distanz, die zwischen der Distanz zum Boxen und der Distanz zum Ringen liegt. Die Kampfweise in dieser Distanz wird in Fachkreisen als Clinchen bezeichnet, obwohl „clinching“ eigentlich im Englischen „klammern“ bedeutet.

Gilt es, sich auf die beiden zuvor beschriebenen Szenarien optimal vorzubereiten, müssen die sieben großen Fähigkeiten als Grundlage trainiert werden. Außerdem darf man in dem sich ergebenden Nahkampf selbst nicht getroffen werden und muss selbst treffen können. Da wir als Menschen viel hantieren, liegt es nahe, sich zuerst dem Kämpfen mit Händen und Armen zu widmen. Sie funktionieren jedoch nicht autark und nur effektiv in Verbindung mit unserem Rumpf, wo wir wieder bei den sieben großen Fähigkeiten wären.

Oft habe ich mir die Frage gestellt, ob WingTsun genau diese benötigten Fähigkeiten wie von selbst entwickelt. Außerdem gibt es im WingTsun dieses spezielle Training für taktiles Kämpfen in der Nahdistanz. Somit wäre WingTsun genau das richtige System. Es ist nach meinen Erfahrungen aber einigen Stilmitteln unterworfen. Ist es dann wirklich ein System zur Entwicklung aller kampftauglicher Fähigkeiten? Da ich selbst noch nicht alle WingTsun-Programme erlernt habe, steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen. Ich kann nur meine eigenen Beobachtungen bewertend heranziehen.

Am Anfang hatte ich von meiner Schülerin in Hongkong geschrieben. Sie ist Anfang zwanzig, schlank, leicht und in unserem Verband ein 8. Schülergrad im WingTsun und ein 7. Schülergrad im Escrima ohne zusätzliches WingTsun-Wissen wie 3. Form oder ChiSao-Programme für HG’s. Wieso kann sie WT-ler mit höherem Programmwissen vor erhebliche Probleme stellen?

Ich selbst trainiere beim Escrima regelmäßig mit Leuten, die im WingTsun deutlich höher graduiert sind als ich selbst. Im Escrima sind sie dann meist jedoch Schülergrade. Auch im Escrima sprechen wir von Basics und von großen Fähigkeiten. Einige dieser Fähigkeiten sind gleich zum WingTsun, andere ähnlich, wenige unterschiedlich. Man könnte nun glauben, dass auf diese entwickelten Fähigkeiten zurückgegriffen werden kann, egal, wie der Stil heißt. Leider kann ich das nur sehr selten beobachten. Ich vermute, dass die großen Fähigkeiten durch das absolvierte Programm noch nicht ausreichend entwickelt wurden. Wahrscheinlich passiert die Entwicklung kampftauglicher Fähigkeit nicht automatisch oder nebenbei, sondern muss gezielt vorangetrieben werden.
Als Resultat aus diesen Beobachtungen stellt sich mir die Frage, ob und wie man effektiver spezielle kampftaugliche Fähigkeiten für Szenario eins bzw. Szenario zwei entwickeln kann.

Der nächste Schritt
In meinem beruflichen Alltag werde ich oft mit vielen Werbeversprechen konfrontiert. Da gilt es, diese auf Plausibilität zu prüfen und danach in der Praxis zu testen und am besten damit noch Geld zu verdienen. Mit dieser Einstellung bin ich zu verschiedenen Trainer-4-Seminaren meines Si-Fu gefahren und ich war auch dabei, als die ersten ChiSao-Kuen-Programme unterrichtet wurden. ChiSao-Kuen könnte man als Boxen mit klebenden Händen übersetzen.
Es ging mir darum zu erfahren, ob es einen Weg gibt, effektiver kampftaugliche Fähigkeiten zu entwickeln als bisher. Für mich erschienen die neuen Erklärungen meines Si-Fu’s plausibel und ich hatte das Gefühl, dass ich eigene Fortschritte bei den großen sieben Fähigkeiten feststellen konnte. Nun basiert ChiSao-Kuen auf den Erfahrungen von vielen Jahrzehnten Beschäftigung mit dem Kämpfen. Wenn man an dem gleichen ChiSao-Kuen-Workshop mehrmals teilnimmt, stellt man fest, es ist nur das Thema gleich. Das ChiSao-Kuen-Programm ist nach meinem Verständnis ähnlich angelegt, wie ein Studium. Man erhält eine Aufgabe und muss sich mit der Aufgabe beschäftigen. Es gibt, ähnlich wie im Studium, Anweisungen, Tipps und auch Konsultationen, damit das Beschäftigen nicht am Ziel vorbeiläuft. Aber die Lösungen zur Aufgabenstellung müssen selbstständig erarbeitet, erkannt oder durch Experimente bestätigt werden. Das ist nicht die Sache von jedem. Oftmals verstehen sich WingTsun-Schüler wie Kunden und nicht wie Studierende und „Kunden wollen Lösungen und keine Probleme“.

Nach eigenen Erfahrungen kann ich bestätigen, dass man sich mit einem Problem am intensivsten auseinandersetzt, wenn man versucht, es anderen Personen zu erklären. Wenn man jemanden etwas erklären will, sollte man seine eigene Welt verlassen und die Erklärungen als Sender auf das Level des Empfängers anpassen. Man beschäftigt sich regelmäßig mit dem erklärten Thema und hört sich gleichzeitig selbst zu. Was am Anfang eventuell undeutlich war, wird von Moment zu Moment klarer und deutlicher. Wenn man dann auch noch Schüler hat, die die Erklärungen hinterfragen bzw. kritisch austesten und bewehrten, kann es nur vorwärts gehen. Ich denke, aus diesem Grund hat Si-Fu das MAGIC HANDS-Programm geschaffen, um den Lehrenden die Chance zu geben, sich durch Unterrichten selbst ständig beim ChiSao-Kuen zu verbessern. „Fake it, till you make it.“
Nach Aussage von Si-Fu handelt es sich bei MAGIC HANDS um „Vier Ecken – WingTsun“ mit echtem Kleben und innerer Energie-Methoden. Mir erscheint das MAGIC HANDS-System als logische Weiterentwicklung auf der Suche nach einer effektiven Trainingsmethode für die zuvor beschriebenen Szenarien eins und zwei.

Zentrallinientheorie vs. Vier-Ecken-Theorie

Vier Ecken-WingTsun war laut Si-Fu ein sehr altes Konzept des WingTsun, das GM Yip Man noch gelernt und teilweise praktiziert hat. Erst später bevorzugte und unterrichtete er die Zentrallinientheorie, die heute noch als das Maß der Dinge im WingTsun gilt. Bevor Si-Fu anfing, das Vier Ecken-WingTsun zu erklären, war es mir im WingTsun nicht untergekommen. Warum GM Yip Man eine solche gravierende Änderung vornahm, lässt sich nur mutmaßen. Vielleicht war es ihm zu schwierig zu unterrichten, vielleicht hatte er Vier Ecken-WingTsun selbst nicht durchdrungen, vielleicht fand er es unpraktisch. Ich würde gern seine Aussage dazu hören.
Wie ich das Zentrallinienmodell verstanden habe, wird hauptsächlich über die Zentrallinie angegriffen. Deshalb wird auch hauptsächlich geübt, wie Angriffe über die Zentrallinie abgewehrt werden. Es gibt sicher einige Argumente dafür, um über die Zentrallinie anzugreifen. Es befinden sich einige Vitalpunkte auf oder unmittelbar neben der Zentrallinie. Der Abstand zwischen den Punkten, wo der Angriff beginnt und wo er endet, ist sehr kurz. Der Weg, um einen Angriff auf der Zentrallinie auszuweichen, ist ziemlich lang. Und wenn man das Konzept verfolgt, überraschend anzugreifen wenn der Gegner die Arme nach oben nimmt, ist in der Mitte erst einmal Platz, um zum Ziel zu gelangen. Wenn man mit dem Zentrallinienmodell angreifen will, ist es nach meinem Verständnis wichtig, den Gegner bis zur Kampfunfähigkeit unter Druck zu setzen und Angriff auf Angriff folgen zu lassen. Womit wir beim Überrennen mit einer unendlichen Kette von Fauststößen wären.
Das Zentrallinienmodell hat aber auch Nachteile. Ich finde das Angreifen über die Zentrallinie biomechanisch nicht optimal. Nach meinem Verständnis können wir am besten hantieren (mit den Händen umgehen), wenn sich der linke Arm vor der linken Körperseite und der rechte Arm vor der rechten Körperseite befindet. Einen Abstand der Hände zueinander, wie bei einem Lenkrad, mit kleinen Abweichungen nach beiden Seiten, finde ich optimal. Beim Zentrallinienmodell befinden sich die Fäuste vor der Mitte unseres Körpers. Außerdem ist beim Angreifen nur der Bereich geschützt, der sich hinter den Armen befindet. Kopf und Hals sind ungeschützt, was ein Zurücknehmen von Kopf und Hals aus der Gefahrenzone bedingt.
Beschäftigt man sich ausschließlich mit dem Zentrallinienmodell, könnte man auf die Annahme kommen, dass man sich in erster Linie gegen Angriffe über die Zentrallinie schützen muss. Vielleicht auch, um von den eigenen Schülern nicht getroffen zu werden. In einer Selbstverteidigungssituation habe ich jedoch noch nie einen Angreifer gesehen, der über die Zentrallinie angreift. An dieser Stelle sollte man sich Gedanken über den Trainingsschwerpunkt machen.

ChiSao

Das vier Ecken-WingTsun in Verbindung mit MAGIC HANDS kenne ich erst seit kurzer Zeit und die Summe der Beobachtungen dazu ist geringer. Mir fällt auf, dass die Bewegungen biomechanisch logischer und effektiver erscheinen. Das Angreifen erfolgt so, dass man beim Angreifen selbst stets geschützt ist und somit trifft, ohne selbst getroffen zu werden. Man ist nicht genötigt, durch aggressives Vorgehen, wie bei den Salven von Kettenfauststößen, einen Gegenangriff zu verhindern.
Es gibt Verteidigungslinien, die man kennen und bewachen muss. Solange man garantiert, dass ein gegnerischer Angriff nicht über diese Linie gelangt, kann man auch nicht getroffen werden. Hier glaube ich, Analogien zum Boxmodell im Escrima zu erkennen. Nur dass hier das Eindringen in die Box durch optisches Erkennen und Konterbewegungen verhindert wird. Bei Anwendung von MAGIC HANDS erfolgt das Schützen der Verteidigungslinien durch das Benutzen taktiler Informationen. Im WingTsun bezeichnen wir das taktile Kämpfen als Kämpfen mit klebenden Händen (ChiSao). Si-Gung Leung Ting spricht jedoch von „Clinging Hands“ - haftenden Händen und nicht von „Sticking Hands“ - klebenden Händen. Wer die Methode der klebenden Hände beherrscht, kann ständig Kontakt zu den Armen des Angreifers halten und erhält so alle notwendigen Informationen über Zeitpunkt, Richtung, Richtungssinn und Stärke des Angriffes. Der Angriff kann dann mit diesen Informationen auf verschiedene Weise unschädlich gemacht werden.
Si-Fu geht noch einen Schritt weiter und spricht von „Sticky Hands“ - klebrigen Händen. Ich denke, er meint damit, dass es dem Angreifer nicht möglich ist, sich dem Kontakt zu entziehen und dadurch dem Gegner ziemlich hilflos ausgeliefert ist.
Wenn man sich im Nahkampf nach Szenario eins oder zwei befindet, kann man es sich nicht erlauben, dass mal ein Angriff durchrutscht. Treffer am Hals oder in den Augen können ein böses Ende nehmen. Es gilt also Fähigkeiten zu haben, die das Durchrutschen von Angriffen verhindern und wo der Verteidiger stets weiß, wo beide Arme des Angreifers sind. In den mir bisher bekannten ChiSao-Abläufen des WingTsun gibt es immer Momente, wo nur Kontakt zu einem Arm besteht und der andere Arm aus verschiedenen Richtungen einschlagen könnte. Dieser Angriff mit dem freien Arm muss dann wieder eingefangen werden.
Zusätzlich gibt es Momente, wo der gegnerische Arm problemlos am Arm des Angreifers entlang zum Ziel rutschen kann. Das ist manchmal eine ziemlich unsichere und unbefriedigende Geschichte. Eigenes herzhaftes und anhaltendes Angreifen hilft dagegen aber auch hier regelmäßig.
Diese Taktik hat aber dann wenig mit dem Benutzen von ChiSao im Nahkampf zu tun.

Innere Energie
Das Benutzen von innerer Energie ist ein fundamentaler Bestandteil im Programm MAGIC HANDS. Mit der ingenieurwissenschaftlichen Definition von innerer Energie kommt man an dieser Stelle wahrscheinlich vorerst nicht weiter: „Die innere Energie bezeichnet die Gesamtheit an kinetischer und potentieller Energie der Bestandteile (Atome, Moleküle) eines Systems. Dabei wird nicht die kinetische Energie berücksichtigt, die das System aufgrund einer Bewegung als Ganzes besitzt und auch nicht die potentielle Energie, die sich durch eine Wechselwirkung des Systems mit der Umgebung ergibt.“2 Vielmehr geht es nach meinem Verständnis um die Beobachtung von Naturgesetzen, die dann auf die Menschen übertragen werden. Das Erklärungsmodell zur inneren Energie geht von fünf Elementen aus, die als Grundkräfte der Natur gelten und sich in jedem Mensch wiederfinden. Sie unterliegen einem ständigen Wandel und stehen in Wechselwirkung zueinander. An dieser Stelle könnte ich nur von diversen Quellen abschreiben, um das Thema weiter zu erläutern, was ich aber nicht tun möchte.

Die großen Sieben
Um zurück zu den kampftauglichen Fähigkeiten zu kommen, möchte ich noch erläutern, wie diese Fähigkeiten auch durch das MAGIC HANDS System abgedeckt werden.

1. Achtsamkeit

Dazu gefällt mir das Synonym Geistesgegenwart am besten. Man trainiert nicht irgendetwas und hofft, Automatismen einzuschleifen, sondern man trainiert ständig mit vollem Bewusstsein und voll konzentriert. Dabei beobachtet man sich selbst und den Übungspartner beim Bewegen. Das Beobachten erfolgt nicht nur durch die Augen, sondern durch möglichst viele Sinne.

Es geht unter anderem darum, auch die kleinste Veränderung in der Verbindung zwischen den Übungspartnern wahrzunehmen. Die Wechselwirkung zwischen Aktion und Reaktion wird beobachtet und untersucht. Eine andere Möglichkeit, die Achtsamkeit zu trainieren, wäre z.B. das bewusste Formentraining. Formentraining gibt es im WingTsun, nicht jedoch bei MAGIC HANDS.

2. Gewandtheit / Beweglichkeit

Gewandtheit und Beweglichkeit sind eng verbunden mit Körpergeschick und Motorik. Um sich geschmeidig und geschickt zu bewegen, gehört es dazu, dass man lernt, die Muskelspannung gezielt zu beeinflussen. Außerdem benötigt man ein geschmeidiges Bindegewebe (Faszien). Regelmäßig wird die Muskelspannung bewusst oder unbemerkt bei Bewusstsein erzeugt. Diese Muskelspannung verhindert unter anderem ein geschmeidiges und geschicktes Bewegen.
Es ist erstaunlich, wie beweglich manche werden, wenn z.B. durch Rauschmittel das Bewusstsein ausgeschaltet wird. Falls man mal versucht, eine völlige betrunkene Person zu bergen, wird schnell klar, was ich meine. Der Körper lässt in einem solchen Zustand einen deutlich größeren Bewegungsumfang zu. Es sollte doch auch möglich sein, diesen Bewegungsumfang durch gezieltes Spannen und Entspannen der Muskulatur zu erreichen.
Um das Bindegewebe elastisch zu machen helfen nach einschlägigen Meinungen Bewegungstherapien, Massagen und Wärmeanwendungen.
Beim Üben mit dem Partner wird Widerstehen geübt, genauso wie dosiertes und bewusstes Nachgeben sowie geschicktes Verändern der Knochen. Die Verbesserung der Gewandtheit
ergibt sich beim Bewegen mit Anspannungen und Entspannungen zwangsläufig.

3. Gleichgewicht
Als Gleichgewicht ist hier nicht nur die Fähigkeit gemeint, im Alltag nicht über die eigenen Füße zu stolpern und nicht auf die Nase zu fallen. Es geht vielmehr um körperliche und um geistige Ausgeglichenheit. In der chinesischen Yin-Yang-Philosophie geht es darum, dass es immer entgegengesetzte Kräfte gibt, die miteinander im Einklang sind. Das Yin-Yang-Symbol ist heutzutage auch in Europa allgegenwärtig.
So schräg das auch klingen mag, ist ein wesentlicher Bestandteil von statischen Betrachtungen in meinem beruflichen Alltag die Überprüfung des Gleichgewichts eines gewählten Systems. Zu einer Kraft gehört immer eine gleich große Gegenkraft. Die Theorie des Gleichgewichts ist mir dadurch sehr vertraut.
Jedes Bewegen, jedes Erzeugen von Kraft erfordert eine entgegengesetzte Bewegung bzw. eine entgegengesetzte Kraft. Anders formuliert, Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden. In einem abgeschlossenen System befinden sich die Energieformen stets im Gleichgewicht. Es erfolgt bei Veränderungen nur eine Umwandlung der Energieformen. Beim Angriff wird z.B. aus kinetischer oder potentieller Energie Verformungsenergie.
Mit dem Verständnis für die Energieerhaltung sind wir wieder bei der weiter vorn beschriebenen inneren Energie. Betrachtet man es nach der chinesischen Yin-Yang-Philosophie, ist die Qualität von Yin davon abhängig, wie gut die Qualität von Yang ist.

4. Die Einheit des Leibes

Die Einheit des Leibes wird oft auch als Körpereinheit bezeichnet. Es geht dabei darum, dass Bewegungen nicht nur durch das Verändern einzelner Gelenke erzeugt werden, sondern alle Bewegungen von der Mitte, vom Rumpf aus, beginnen und alle Gelenke der mechanischen Ketten mit dem richtigen Timing genutzt werden. Damit werden die Bewegungen unglaublich effektiv. Die Einheit des Leibes ist eng verbunden mit dem Gleichgewicht und der Gewandtheit. Körpereinheit lässt sich nach meinem Verständnis nur durch langsames und bewusstes Üben trainieren. Das heißt, man darf nur so schnell üben, wie man sich selbst noch folgen kann.
Dazu ist das bewusste ChiSao-Training gut geeignet.
Betrachtet man den menschlichen Körper als komplexes mechanisches System, fällt auf, dass eine aktive Bewegung von einem Körperteil immer auch eine Reaktion bei einem benachbarten Körperteil verursacht. Das liegt daran, dass Bewegungsmuskeln mindestens an zwei Stellen festgemacht sind und über ein bewegliches Teil (Gelenk) arbeiten. Bei Aktivierung der Bewegungsmuskeln wird sich das Teil mit der geringeren Trägheit zuerst und deutlich mehr bewegen. Die Körperteile werden zur Mitte hin immer träger. Ein Arm kann sich nur aktiv bewegen, weil die Armmuskeln den Rumpf als Festhaltepunkt (Widerlager) benutzen. Es ist offensichtlich, dass aktive Bewegungen der Extremitäten immer gegen den Rumpf erzeugt werden müssen. Man muss sich dessen nur bewusst sein. Bewegungen mit Hilfe der Schwerkraft oder durch Fliehkräfte seien hier nicht betrachtet.
Das Training mit unterschiedlichen Kräften aus verschiedenen Richtungen, wie beim ChiSao-Training, schult die Einheit des Leibes.

5. Wahrnehmungsfähigkeit
Hier geht es um den Einsatz der menschlichen Sinne. Für das Kämpfen im Nahkampf sind Sehsinn, Tastsinn und Muskelsinn von enormer Bedeutung. Unser Körper besitzt verschiedenste Sinneszellen, die zum „Messen“ unterschiedlichster Umweltfaktoren dienen. Im Nahkampf wollen wir möglichst stets wissen, wo sich die gegnerischen Körperteile befinden, um nicht überraschend getroffen zu werden. Aus diesem Grund versuchen wir stets, Kontakt zum Gegner zu halten. Somit wissen wir, wo sich z.B. der gegnerische Arm in Bezug zum eigenen Arm befindet. Außerdem spüren wir, wohin und mit welcher Geschwindigkeit er sich bewegt. Dieses Training, bei uns ChiSao genannt, schult Tast- und Muskelsinn. Besteht kein Kontakt zum Gegner, müssen die Augen die Funktion übernehmen, den Gegner in seinen Einzelheiten zu lokalisieren. Der eigene Körper wird dabei trotzdem so bewegt, als wäre er mit dem Gegner verbunden. Besteht wieder Kontakt, können die anderen taktilen Sinneszellen wieder übernehmen. Die optische Wahrnehmung lässt sich nämlich besser täuschen, als der Muskelsinn. Trotzdem ist die optische Wahrnehmung zu trainieren, um Phasen des Kampfes ohne Kontakt zu überstehen.

6. Timing

Unter Timing verstehe ich, das Passende zum richtigen Zeitpunkt zu tun. Im MAGIC HANDS-Training wird trainiert, sich mit der Veränderung des Angreifers passend zu verändern. Es gibt kein Davor und kein Danach, nur ein Jetzt. Besser kann ein Training des Timings nicht sein.

7. Kampfgeist

Es ist nicht offensichtlich, wie durch das Training von MAGIC HANDS der Kampfgeist entwickelt werden kann. Das Entwickeln des Kampfgeistes ist im Allgemeinen recht schwierig.
„Um den Kampfgeist in stressigen Situationen aufrecht zu halten, hilft es,
positive Erinnerungen aus vergleichbaren Situationen zu aktivieren. Sie liefern Ansporn und beweisen, dass man das Leistungsvermögen besitzt, mit solchen Herausforderungen klar zu kommen...“3

Das bedeutet, man trainiert Situationen so, dass man diese im Training meistert. Kampfgeist entsteht u.a. dadurch, dass man sich später erinnert, man hat es schon einmal geschafft - warum nicht auch jetzt?

Schlussfolgerung

Ich bin mir sicher, MAGIC HANDS mit seinem ChiSao führt über einen spezialisierteren Weg zum Ziel, um in Szenario eins und zwei zu bestehen, als WingTsun. Ich denke jedoch, dieser Weg ist nicht für alle bedingungslos geeignet, genauso wenig, wie der Weg im WingTsun. Ich finde das nicht schlimm und werde nicht missionieren. Viel lieber möchte ich durch Qualität überzeugen. Ich bin überzeugt, dass MAGIC HANDS WingTsun wunderbar ergänzen kann. Noch habe ich keine Erfahrungen, wie MAGIC HANDS ohne WingTsun ist. Es scheint mir ein lohnenswertes Experiment, was ich aber für mich selbst nie, bedingt durch Vorkenntnisse oder Vorbelastungen, erkennen kann. Ich wünsche mir für diese Erkenntnis geeignete, nicht vorbelastete Schüler.

Ich glaube, warum ich mich jetzt auch mit MAGIC HANDS beschäftige, ist für mich geklärt.

Nachwort
Beim wiederholten Lesen des Textes wird mir klar, dass ich an vielen Stellen nur an der Oberfläche gekratzt habe und es noch viele Themen gibt, wo es sich lohnen würde, intensiver darüber nachzudenken. Ich wollte die Arbeit mit weniger Seiten zum Abschluss bringen. Die Aufforderung von Si-Fu lautete, „Schreib zwei, drei Seiten“. Das ist mir nicht wirklich gelungen.

1Khaleghl Quinn (1994): Hände weg! Zweitausendeins. ISBN 3-86150-092-2.

2https://studyflix.de/ingenieurwissenschaften/innere-energie-1926

3https://www.bigkarriere.de/karrierewelt/querbeet/mentale-starke

Teaser Probetraining Kids

 

 

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